The Gap

Unsicherheit macht uns krank, doch sie lässt auch Neues entstehen. Die Evolution hat uns herausgebildet, dieser Bedrohung weitestgehend zu entgehen und Klarheit zu schaffen, wo es möglich ist. Gesellschaftliche Systeme, die sicher und stabil sind, fördern ein freieres, gerechteres und von höherem Wohlstand geprägtes Leben. Gleichzeitig kann ein solcher Komfort, die Trägheit, die aus dem Wissen der Absicherung, dem durchstrukturierten Alltag entsteht, der Kreativität und allem Unkonventionellen ein Dorn im Auge sein. Wozu das Anderssein und Herausstechen wagen, wenn es sich so gut in Sicherheit und Komfort lebt? 

Diesmal ist es anders. Die Unsicherheit hat überhandgenommen und uns teils benommen zurückgelassen. Haben wir versucht, das externe Chaos durch ultimative Ordnung in den eigenen vier Wänden wettzumachen? Die heile Welt zu erhalten, die da draußen auf einmal in sich zusammenbricht? Unserem Gehirn zu signalisieren, dass es noch Inseln der Sicherheit und der Kontrolle gibt? Und was ist uns gelungen?

Obwohl diese Pandemie globale Auswirkungen hat und sich wohl im kollektiven Bewusstsein einen Fixplatz reserviert hat, so sind individuelle Schicksale doch höchst unterschiedlich. Eine alleinerziehende Mutter hat die Krise anders durchgemacht, als eine Familie im Villenviertel. Aber auch sie hat auf einen Staat zurückfallen können, der sie mit dem nötigsten zumindest finanziell unterstützte: Alles andere als eine Selbstverständlichkeit, auch in und um Europa. Lockdowns lassen sich nicht aufrechterhalten, wenn der Lebensunterhalt vom täglichen Einkommen abhängt. Schüler und Studenten haben gewissermaßen eine kollektive Isolation erlebt, die weit über verpasstes Lernen hinaus soziale, psychische und wirtschaftliche Folgen haben wird. Diejenigen von uns, die selbst krank waren oder jemanden verloren haben, müssen mit anderen Geistern kämpfen. So tragen wir alle die Last auf unseren Schultern, wenn auch auf verschiedene Weise. 

Denn diese Pandemie war leise. Sie war unsichtbar, wirkte erst dann bedrohlich, wenn Spitalsbetten überfüllt waren und die Medien sich in Hiobsbotschaften übertrumpften. Die Wissenschaft, die Meisterleistungen erbrachte und globale Kooperation vorlebte, wurde von manch einflussreichem Entscheidungsträger nicht ernst genommen. So erlebten wir keinen Krieg, obwohl dieses Bild in dramatischen Situationen heraufbeschworen wurde. Nein, wir erlebten und erleben, wie etwas, was kaum lebendig ist, Leben so systematisch zerstören kann. Wie unsere Augen und Sinne uns täuschen können, wenn die Gefahr so abstrakt, so unwirklich scheint. Exponentielles Wachstum ist also nicht nur irgendein mathematisches Phänomen – sondern jetzt auch Teil eines neuen Realitätsverständnisses. 

Da ist er nun doch – der Begriff der Realität. Wie sehr unsere subjektive Wahrnehmung der Realität dem entspricht, was objektiv „da draußen“ ist – oder ob schon in dieser Denkweise der Fehler liegt, das ist eine Frage, die anregt, aber noch unbeantwortet bleibt (Ist das Philosophie?). Doch sicherlich ist eine Rückkehr zur Normalität, zur alten Realität, eine Illusion, die wir wohl nur mittragen und heraufbeschwören, weil sie uns Gewohntes verspricht. „Das war alles nur ein Albtraum und wird nie wieder passieren“, schwingt mit. Doch wir haben andere Krisen, die wir nur zusammen bewältigen können und die keinen Platz für solches Wunschdenken lassen. Vieles ist schiefgelaufen seit Beginn der Pandemie, doch es wurden auch herausragende Leistungen erbracht, oft geprägt von unglaublichem Willen.

Zusammen haben wir es wohl durch das Schlimmste geschafft und für uns geht das Leben weiter. Jetzt geht es darum, von vorne zu beginnen, den frischen Wind mitzunehmen und mutig zu sein. Denn die Unsicherheit und Isolation haben zumindest eines gezeigt: Wir wissen nie, wie viele Tage wir noch haben und über wie viele wir selbst entscheiden können. Automatismus im Alltag lässt uns gegenüber unserer Umwelt erblinden, sei es die soziale oder die natürliche. Nachdem wir aus diesem merkwürdigen Tiefschlaf erwachen, kann uns die Welt in einem neuen Licht erscheinen. In welchem wollen wir sie sehen?

 

About the artist: Paul Fingl

Mein Name ist Paul Fingl, ich bin 21 Jahre alt und wohne und studiere derzeit in Wien.

Manchmal werden wir auf brutale Weise aus unserer Wirklichkeit gerissen. Was gerade noch als selbstverständlich galt, wird auf den Kopf gestellt. Zuerst will es keiner wahrhaben und dann passen wir uns an die neuen Umstände, an das veränderte Umfeld und die veränderte Umwelt an. Doch ändert sich auch etwas in unserem Sein und handeln? Oder nehmen wir erneut Anlauf um stur mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen? Krisen wie diese haben das Potenzial, grundlegenden Wandel auf vielen Ebenen hervorzurufen. Jeder für sich und alle zusammen können wir nach der Destruktion Neues aufbauen. Doch wir müssen uns dazu entscheiden.

Dieser kurze Text soll zum Denken anregen und Perspektiven aufzeigen. Vielleicht schafft er es auch, das Gefühl eines bewussten Neuanfangs zu vermitteln.

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